Klavierzyklus in 10 Sätzen (1911) “Auf verwachsenem Pfade”
Werkverzeichnisnummer: 3380
1. Unsere Abende
2. Ein verwehtes Blatt
3. Kommt mit!
4. Die Friedecker Muttergottes
5. Sie schwatzten wie die Schwalben
6. Es stockt das Wort!
7. gute Nacht!
8. So namenlos bange
9. In Tränen
10. Das Käuzchen ist nicht fortgeflogen!
LEOS JANACEK
Auf verwachsenem Pfade
Klavierzyklen als autobiographisches Bekenntnis zu schreiben, hatte in der Tschechischen Musik schon lange vor Leos Janacek Tradition. Zu nennen ist hier besonders Zdenek Fibich mit seinem acht Jahre lang geführten klavieristischen Tagebuch Stimmungen, Eindrücke und Erinnerungen. Mit dem 15 teiligen Zyklus Auf verwachsenem Pfade hat Janacek an dieses Vorbild angeknüpft, denn auch sein Zyklus trägt autobiographischen Charakter.
Als 1903 seine über alles geliebte Tochter Olga starb, versank der Vater in tiefe Resignation. In zunächst nur fünf Stücken für Harmonium beschrieb er die Wege, die er an ihrer Seite gegangen war, als einen von Gras überwachsenen Pfad:” Verwachsen von zartkleinem Klee ist mir zum Mütterchen der Pfad” heißt es in einem mährischen Hochzeitslied – Janacek entlehnte das Bild der Volksdichtung. Die Harmoniumstücke arbeitete er später für Klavier um und fügte bis 1908 weitere fünf Stücke von ähnlichem Gehalt hinzu. In dieser Form hat er den Zyklus dann 1911 herausgebracht. Die letzten fünf Sätze wurden erst 1942 posthum ergänzt, 14 Jahre nach seinem Tode.
Schon die Titel der Stücke beschreiben, wie der Vater in Gedanken immer wieder um die Erinnerungen an sein verlorenes Kind kreiste – Erinnerungen, die ihm so lieb waren, dass sie “glaube ich, niemals enden werden”, wie er bekannte: “Das Maß der dabei erlebten Leiden ist größer, als Worte zu sagen vermögen”. Also kleidete er jene schmerzlichen Erinnerungsbilder in Klavierzeichnungen von zarter Melancholie und feinster Linienführung.
Sie beginnen mit den Abenden, die er an der Seite seiner Tochter verbringen durfte, einem Moderato in cis-Moll, dessen klagende Melodie sich in schlichtester Linienführung entfaltet und immer wieder beim Ton gis ansetzt. Im zweiten Stück, einem Andandte in Des-Dur, sinniert der Vater über ein “verwehtes Blatt”, das von Vergangenem kündet. Janacek nannte diesen Satz in einem Brief ein “Liebeslied”, es ist freilich ein durch und durch melancholisches. Nach dem kindlich-freudigen Intermezzo der Nr. 3 (“Kommt mit!”) schildert die Nr. 4 eine Wanderung von Vater und Tochter zur Frydecker Muttergottes, einem Gnadenbild, das beide andächtig anbeteten. Die Musik dieses Stücks, das ganz vom Klang des Harmoniums aus gedacht ist, verwendete Janacek später für ein Ave Maria.
Im fünften Stück mit dem Titel “Sie schwatzten wie die Schwalben” setzt sich wieder kindliche Daseinsfreude durch, bevor im sechsten Stück “die Bitternis der Enttäuschung” spürbar wird (“Es stockt das Wort!”, Andante in Es-Dur). Das siebte Stück ist ein aus der Vergangenheit zurückgeholtes Nacht- und Schlaflied für die Tochter, ein Andante in lydischem C-Dur über ein schwebenden Begleitung. Nr. 8, “So namenlos bange”, beschreibt die Schattenseiten der Nacht. Leises Weinen durchzieht dieses Stück, eine “Vorahnung unentrinnbaren Todes”, die seine Tochter in der Nacht überfiel, wie der Vater berichtete: “ In heißen Sommernächten war dem geradezu engelsgleichen Geschöpf so tödlich bang.” Die Linie hin zum Leid wird im neunten Stück “In Tränen” weitergeführt und gipfelt in der Nr. 10 mit dem Titel “Das Käuzchen ist nicht fortgeflogen!” Was im Titel so unschuldig klingt, ist in Wahrheit ein düsteres Stück voller Todesahnungen, das zur Ausgangstonart cis-Moll zurückkehrt. Das “vertrauensvolle Lied des Daseins”, eine Art Choral, wird immer wieder vom “unheilkündenden Motiv des Käuzchens” unterbrochen. Im Volksglauben galt der Kauz als Todesbote, sein Ruf als schlechtes Omen.