Streichquartett Nr. 1 "Kreutzersonate" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Leos Janácek

Streichquartett Nr. 1 "Kreutzersonate"

Quartett Nr. 1 für zwei Violinen, Viola und Violoncello, „Kreutzersonate“

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2854

Satzbezeichnungen

1. Adagio – Con moto

2. Con moto

3. Con moto – Vivace – Andante

4. Con moto – Adagio – Più mosso

Erläuterungen

2018

1803 komponierte Ludwig van Beethoven seine berühmte „Kreutzersonate“ für Violine und Klavier. 1887-1889 schrieb der russische Dichter Lew Tolstoi eine Erzählung, in der jene Beethovensonate eine Schlüsselrolle spielt. Er gab ihr den Titel Die Kreutzersonate. 1923 entwarf der tschechische Komponist Leoš Janáček sein erstes Streichquartett, und zwar unter dem Eindruck jener Erzählung von Lew Tolstoi. Deshalb trägt auch dieses Streichquartett den Untertitel „Kreutzersonate“, obwohl es sich gar nicht um eine Sonate handelt und der Bezug zur Beethovensonate ein indirekter ist. So wurde aus großer Musik der Wiener Klassik zunächst eine dramatische Erzählung der russischen Literatur und daraus wiederum ein Streichquartett der frühen Moderne in Tschechien.

Lew Tolstoi, der große russische Dichter und Autor des Romans Krieg und Frieden, genoss in den slawischen Ländern um 1900 eine tiefe Verehrung, die fast schon ans Religiöse grenzte: Er war zum Symbol für eine slawische Auferstehung geworden, für eine neue Epoche des slawischen Selbstbewusstseins. Allenthalben feierte man ihn auch in Tschechien: Zum 80. Geburtstag des Dichters im September 1908 veranstaltete man in Janáčeks Heimatstadt Brno (Brünn) eine „Tolstoi-Feier“. In der Vorstellung der tschechischen Patrioten richtete sich diese Russlandbegeisterung gegen die Habsburger-Herrschaft. Seit 300 Jahren hatten die Österreicher Tschechien fest im Griff, billigten dem Land aber nicht die gleichen Autonomierechte zu, die sich Ungarn in der k. und k. Monarchie erstritten hatte. Dies führte vor dem Ersten Weltkrieg zu stetig steigenden Spannungen und zu einer vehementen anti-deutschen bzw. anti-österreichischen Stimmung. Auch Janáčeks Herz schlug für Russland, was er nach der Tolstoi-Feier in einem Klaviertrio bekundete, dem er Tolstois Erzählung Die Kreutzersonate zugrunde legte. Dieses Klaviertrio ist heute verschollen. Erst 14 Jahre später schuf Janáček über jene Erzählung sein bekanntes Streichquartett: Der fast siebzigjährige Komponist griff das Sujet des verlorenen Trios noch einmal auf und formte es in ein Quartett um. Für das Böhmische Quartett schuf er damit seinen offiziellen Quartett-Erstling, nachdem er eine Jugendarbeit in diesem Genre aus seiner Wiener Studienzeit von 1880 vernichtet hatte. Letztlich war es eine Schaffenspause im Terminkalender des Opernkomponisten Janáček – zwischen Das schlaue Füchslein und Die Sache Makropolous –, die ihm im Herbst 1923 die Gelegenheit zur Komposition gab. Mit dem Elan eines jungen Meisters hat er das Quartett in nur neun Tagen zu Papier gebracht, zwischen dem 30. Oktober und 7. November.

Indem der alte Janáček die Erzählung von Tolstoi noch einmal aufgriff, setzte er dem 1910 verstorbenen russischen Dichter ein Denkmal, frönte aber zugleich seiner musikdramatischen Ader. Denn hier hat Janáček, der große Opernkomponist, eine Oper für vier Streicher geschaffen, deren „Libretto“ gleichsam von Tolstoi stammt. Dessen Erzählung Kreutzersonate erzählt psychologisch packend von einer Ehekrise, in der Beethovens so genannte „Kreutzersonate“ die Schlüsselrolle spielt. Dabei ergriff Janáček ganz im Gegensatz zum Dichter für die Frau Partei, die scheinbare Ehebrecherin, die Tolstoi scharf verurteilte. Janáček aber hat die leidende Frau in den Mittelpunkt gestellt, wie auch in seinen Opern. Er hatte dabei, ohne es zu ahnen, eine Mitstreiterin in Sofia Tolstaja, der Ehefrau Tolstois, die ebenfalls gegen die Erzählung ihres Mannes Stellung bezog und für die Frau Partei ergriff, wie es Janáček in seiner Musik tat. 1893 schrieb sie den Roman Wessen Fehl? Die Erzählung einer Frau (Anlässlich der Kreutzersonate Lew Tolstois). Erst 1994 durfte dieser Roman in Russland erscheinen, 2008 wurde er ins Deutsche übersetzt. Schon den Zeitgenossen war klar, dass Tolstoi mit den Hauptfiguren seiner Erzählung im Grunde seine eigene Frau und sich selbst meinte. In dem englischen Kinofilm Ein russischer Sommer haben Christopher Plummer und Helen Mirren das Ehepaar Tolstoi vor ein paar Jahren in unvergesslicher Weise verkörpert.

Janáčeks Erstes Streichquartett ist – wie das wenig später entstandene zweite Quartett mit dem Titel Intime Briefe – reine Programmmusik. Freilich konnte man hier die Umsetzung der literarischen Vorlage nicht im Detail nachweisen, da der Komponist, anders als im Falle des zweiten Quartetts, dazu keinerlei Andeutungen machte. Doch steht außer Frage, dass es Janáček um das moralische Problem von Tolstois Erzählung ging: den Ehebruch einer Frau, die aus ihrer unglücklichen Ehe dadurch auszubrechen versucht, dass sie dem Werben eines ihrer nicht würdigen Liebhabers nachgibt. Anders als der Dichter, der über seine Heldin den Stab der bürgerlichen Moral bricht, stellte sich Janáček auf ihre Seite. Seine Musik, „die alle Stadien der Emotionen von der rastlosen Suche über den Schmerzensschrei bis zur tödlichen Verzweiflung im Finale durchläuft“ (Max Brod), ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Sehnsucht der Frau nach Freiheit und Unabhängigkeit in der Gesellschaft.

2003
Den Tolstoi-Feiern im mährischen Brno (Brünn) 1909 verdanken wir es, dass Leos Janacek sein erstes Streichquartett über die Erzählung Kreutzersonate des russischen Romanciers geschrieben hat. Tolstoi seinerseits hatte Beethovens großer A-Dur-Violinsonate, op. 47, der sogenannten Kreutzersonate, eine Schlüsselrolle in dem Ehedrama seiner Erzählung zugedacht und sie deshalb im Titel zitiert. Die Brücke von der Literatur zurück zur Musik baute dann wiederum Janacek, wenn auch nicht gleich im Medium des Streichquartetts. Erst schrieb er ein Klaviertrio über Tolstois Erzählung, und zwar zu den besagten Tolstoi-Feiern 1909. Dass sich die Mähren überhaupt so sehr zu dem Autor von Krieg und Frieden hingezogen fühlten, dass sie ihm eine Gedenkfeier und eigene Kunstwerke widmeten, hatte letztlich politische Gründe: Im schwelenden Konflikt um die Selbstbestimmung Tschechiens fühlten sie sich zur slawischen, also russischen Partei hingezogen, während sie die Preußen und die Österreicher hassten.

14 Jahre, nachdem Janacek zu jenen Feierlichkeiten sein heute verlorenes Klaviertrio über Tolstois Erzählung komponiert hatte, griff der fast 70jährige Komponist das Sujet (und eventuell auch Motive der früheren Komposition) in Form eines Streichquartetts noch einmal auf. Für das Böhmische Streichquartett schrieb er damit seinen offiziellen Quartett-Erstling. (Ein „nulltes“ Quartett, eine Jugendarbeit aus seiner kurzen Wiener Studienzeit 1880, hist heute verschollen.) Eine Schaffenspause zwischen den Opern Das schlaue Füchslein und Die Sache Makropolous gab ihm im Herbst 1923 Gelegenheit zur Komposition, die er mit dem Elan eines Jugendlichen in nur neun Tagen zwischen dem 30. Oktober und 7. November abschloss.

Wie das wenig später entstandene zweite Janacek-Quartett Intime Briefe ist auch das erste Programmusik. Zwar konnte man die Umsetzung der literarischen Vorlage en detail nicht nachweisen, da der Komponist, anders als im Falle des zweiten Quartetts, dazu keinerlei Andeutungen machte. Doch steht außer Frage, dass es Janacek um das moralische Problem von Tolstois Erzählung ging: den Ehebruch einer Frau, die aus ihrer unglücklichen Ehe dadurch auszubrechen versucht, dass sie dem Werben eines ihrer niocht würdigen Liebhabers nachgibt. Anders als der Dichter, der über seine Heldin den Stab der bürgerlichen Moral bricht, stellte sich Janacek auf ihre Seite. Seine Musik, „die alle Stadien der Emotionen von der rastlosen Suche über den Schmerzensschrei bis zur tödlichen Verzweiflung im Finale durchläuft“ (Max Brod) ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Sehnsucht der Frau nach Freiheit und Unabhängigkeit in der Gesellschaft, eines der zentralen Themen des alten Janacek.

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Den Tolstoi-Feiern im mährischen Brünn 1909 verdanken wir es, dass Leos Janacek Kammermusik über Tolstois Erzählung Kreutzersonate schrieb. 14 Jahre, nachdem er zu jenen Feierlichkeiten ein heute verlorenes Klaviertrio über diese Erzählung komponiert hatte, griff der fast 70jährige Komponist das Sujet (und eventuell auch Motive der früheren Komposition) in Form eines Streichquartetts noch einmal auf. Für das „Böhmische Streichquartett“ schrieb er damit seinen offiziellen Quartetterstling. (Wie auch im Falle von Brahms handelte es sich strenggenommen nicht um das erste Quartett, da eine Jugendarbeit aus Janaceks kurzer Wiener Studienzeit 1880 vorausgegangen war; freilich fehlt davon jede Spur.) Eine Schaffenspause zwischen den Opern Das schlaue Füchslein und Die Sache Makropolous gab ihm im Herbst 1923 Gelegenheit zur Komposition, die er mit dem Elan eines Jugendlichen in nur neuen Tagen zwischen dem 30. Oktober und 7. November abschloss.

Wie das wenig später entstandene zweite Janacek-Quartett Intime Briefe ist auch das erste Programmusik. Zwar konnte man die Umsetzung der literarischen Vorlage en detail nicht nachweisen, da der Komponist, anders als im Falle des zweiten Quartetts, dazu keinerlei Andeutungen machte. Doch steht außer Frage, dass es Janacek um das moralische Problem von Tolstois Erzählung ging: den Ehebruch einer Frau, die aus ihrer unglücklichen Ehe dadurch auszubrechen versucht, dass sie dem Werben eines ihrer niocht würdigen Liebhabers nachgibt. Anders als der Dichter, der über seine Heldin den Stab der bürgerlichen Moral bricht, stellte sich Janacek auf ihre Seite. Seine Musik, „die alle Stadien der Emotionen von der rastlosen Suche über den Schmerzensschrei bis zur tödlichen Verzweiflung im Finale durchläuft“ (Max Brod) ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Sehnsucht der Frau nach Freiheit und Unabhängigkeit in der Gesellschaft, eines der zentralen Themen des alten Janacek.